Sitz: Frankfurt am Main
Zum Gedenken an Rudolf Malter

Präsident der Schopenhauer Gesellschaft e.V. von 1984 bis 1992

Von Heinz Gerd Ingenkamp (Bonn)

Rudolf Malter war, soweit ich ihn gekannt und verstanden habe, kein »Schopenhauerianer«. Seine Lebenshaltung und seine wissenschaftliche Fragestellung waren von anderen Seiten geprägt. Aber Schopenhauer gehörte mit ins Zentrum seiner Forschung.
Systematisch folgt in Rudolf Malters Denken die Frage nach Schopenhauer denjenigen nach Luther und Kant. Malter stellt somit die Frage, wie Erlösung Hauptgegenstand Lutherischen Denkens angesichts Kritischer Philosophie möglich ist.
Den Anspruch, diese Frage beantwortet zu haben, findet er bei Schopenhauer. Malter untersucht insbesondere die das Fazit des ganzen Systems bildende Antwort Willensverneinung durch Erkenntnis , d.h. er kritisiert dies Fazit, indem er fragt, wie es verstanden werden muß, um Gültigkeit zu beanspruchen. Die Schopenhauersche Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Erkenntnis und Erlösung galt ja stets als die crux der Schopenhauerinterpretation. Nicht nur, daß Schopenhauer, um Erlösung möglich zu machen, eine besondere Weise der Erkenntnis postulieren muß; er müßte dieser Erkenntnis, wenn sie, wie die gängige Interpretation will, in die Welt der Erscheinung gehört, dann auch noch die Kraft verleihen, das hinter der Erscheinung stehende, nicht einmal seiende, jedenfalls nicht im selben Sinn wie sie, die Erscheinung, seiende Ding an sich zu beeinflussen. Dieser Gedanke wäre absurd.
Sollte also die Frage nach der Vermittelbarkeit von Erlösung und Erkenntnis hier, wo sie nach Kant erstmals mit solchem Ernst gestellt worden ist, schon als solche, als Frage, gescheitert sein?
Rudolf Malter findet einen Weg, sie und die Antwort auf sie als sinnvoll zu begreifen,
Der Schlüsseltext zu seinem Schopenhauerverständnis, und d.h.: zu seiner Lösung eben dieser Frage, ist ein Aufsatz aus dem Jahr 1982. Er trägt den das Problem nennenden Titel »Erlösung durch Erkenntnis. Über die Bedingung der Möglichkeit der Schopenhauerschen Lehre von der Willensverneinung«. Man braucht nur einen Blick in das neun Jahre später erschienene Hauptwerk zu Schopenhauer zu werfen, das nach dem Verhältnis zwischen Transzendentalphilosophie und, wie Malter sagt, »philosophischer Soteriologie« fragt*, um die Bedeutung der Fragestellung jenes älteren Aufsatzes für ihn zu begreifen. Malters Lösung zeigt, daß die crux interpretationis auf Schopenhauers prozessualer, also Kausalität implizierender Darstellung vom »Sich Losreißen des Willens von der Er kenntnis« beruht und daß die gängige Interpretation sich davon irreleiten läßt, daß Schopenhauers Gedanke aber von vornherein über diese Darstellung hinaus ist. Derjenige Erkenntnisvorgang, der u. a. auch die Erlösung ermöglicht, entsteht nicht in der Zeit, sondern ist vielmehr >a priori< beim Willen. » < …> nur unter der Voraussetzung, daß der Wille uranfänglich auf Erkenntnis bezogen ist, kann a posteriori der Prozeß eintreten, den wir als augenblickshaftes Vergessen der Willensversklavtheit des Erkennens <…> und als dauernde Aufhebung der Willensherrschaft <…> explizit vor Augen haben«.** Der üblichen Interpretation der zur Erlösung führenden Erkenntnis als einer Angelegenheit nur des menschlichen Intellekts ist damit widersprochen.
Rudolf Malters Schopenhauerbild stand im wesentlichen fest, als er im Jahre 1984 Präsident der Schopenhauer Gesellschaft wurde. Er wurde der eigentliche Nachfolger Arthur Hübschers, nach einem in ganz andere Richtungen tendierenden Intervall von zwei Jahren. Arthur Hübscher war der historisch geschulte Literaturwissenschaftler und Philologe, der große Editor und der stilvolle Autor, der wie niemand vor und nach ihm Nietzsche ausgenommen, Schopenhauer als ein Ereignis der deutsche und europäische Kultur gelehrt hat. Rudolf Malter war mit ganzem Herzen der Fachphilosoph, dein es, wie am eindrucksvollsten sein Schopenhauer gewidmetes großes Werk zeigt, gegeben war, auch der eleganten Darstellung den strengen Gedanken zu entnehmen. Malter hat Schopenhauer nach Jahrzehnten, in denen dieser an den Universitäten kaum berücksichtigt wurde, als einen Philosophen wiederentdecken lassen, dessen Denken sich auch kategorial und terminologisch, anders als der Stil seiner Darstellung zunächst erwarten läßt, homogen in die nachkantische deutsche Philosophie einordnet.
Wie der Kulturwissenschaftler und Philologe Arthur Hübscher ein philosophischer Kopf war, so war der Philosoph Rudolf Malter ein Philologe von besonderem Talent jeder der beiden beherrschte das Metier des anderen, aber jeder setzte die Akzente so, daß die Schopenhauer Gesellschaft auf den Glücksfall einer Nachfolge verweisen kann, die sich im Sinne der Schopenhauer Rezeption auf das günstigste ergänzt hat.
Der Philosoph Rudolf Malter und die Eigenart seines Schopenhauer Verständnisses läßt auch an den anderen überragenden Präsidenten der Schopenhauer Gesellschaft, an Paul Deussen, ihren Gründer, denken. Auch hier zeigt sich die glücklichste Ergänzung. Schopenhauer beginnt seine Dissertation bekanntlich mit der Nennung der beiden Philosophen, in deren Nachfolge er sich sieht, des, wie er sagt, göttlichen Platon und des „erstaunlichen“ Kant. Der kritische Schopenhauerleser wird immer wieder auf die Frage gestoßen, inwieweit es Schopenhauer überhaupt gelingt, die Kantische Weise zu fragen durchzuhalten und inwieweit sich der das Abendland weitgehend beherrschende Platonismus in die Schopenhauersche Kantrezeption hineindrängt. Der Philosoph und Indologe Deussen läßt die Geschichte der von Schopenhauer her gesehenen Philosophie mit den Indern beginnen und versteht bereits die Inder, dann auch Kant und Schopenhauer weitgehend platonisch. Es ist die Frage nach Schein und Sein, nach dem Schleier der Maja und seiner Durchdringung, die er in den frühesten Spuren philosophischen Denkens und auf seinem Gipfel, für ihn Schopenhauer, gestellt und bei Schopenhauer geklärt sieht. Kant ist dieser Sicht weitgehend anbequemt. Dieser platonistischen Interpretation Schopenhauers und der indisch europäischen Philosophie im ganzen, die Schopenhauer selbst durch eine Fülle von Hinweisen nahelegt, stellt Malter den unbequemeren Versuch an die Seite, Schopenhauer als Denker auf der Höhe der neuerreichten Frage und des Niveaus ihrer Beantwortung zu verstehen. Dieser Aufgabe ist sein Schopenhauerbuch gewidmet, daß schon äußerlich die Interpretation Schopenhauers in ein von Kant inspiriertes Aufbau- und damit Frage und Antwortschema einlegt. Schopenhauer geht von Kant aus: das und es ist trotz aller Beteuerung Schopenhauers tatsächlich ein demonstrandum will Rudolf Malter sagen, und wie Schopenhauer es tut, das ist uns in Malters großem Werk erklärt.
Rudolf Malter bildet mit Paul Deussen und Arthur Hübscher die Trias der großen Themengeber im ersten Jahrhundert einer mit viel Idealismus angetretenen Gesellschaft und repräsentiert in ihr einen Standpunkt, der mit dem der beiden anderen zusammen den Horizont der mehrschichtigen geistigen Welt des großen Denkers erkennen läßt. Man darf sagen, daß die Schopenhauer Gesellschaft in ihren drei führenden bisherigen Vertretern die führende Schopenhauerforschung repräsentiert.
Das Philosophische Seminar der Universität Mainz hat seinen Teil dazu beigetragen, daß Rudolf Malter in der Schopenhauerforschung zu der führenden Gestalt werden konnte, die er seit dem Tode Arthur Hübschers war. Hier fand er in seinen Lehrern, Kollegen und nicht zuletzt in seinen vielen Schülerinnen und Schülern eine Gemeinschaft von Philosophierenden, die neben Kant auch Schopenhauer nicht nur studieren, sondern auch in ihr eigenes Denken hineinnehmen wollte. Beides ist in Deutschland nicht selbstverständlich, nein, es ist einmalig. Ich hoffe, nicht sagen zu müssen, es sei einmalig gewesen. Daß er ein Jahr vor seinem plötzlichen Tod zum Präsidenten der Kant Gesellschaft gewählt wurde, wird man als Indiz dafür ansehen dürfen, daß seine kantianisch inspirierte Schopenhauerforschung auch in diesem Kreise anerkannt war. Offenbar hat man das Schopenhauerbuch als das angesehen, was es ist: als auch ein Kantbuch und hat damit Rudolf Malter einen Wunsch erfüllt, den er vom Anfang seiner Schopenhauer-Forschung an gehegt hat: Schopenhauer mit Kant in den für die seriöse Schopenhauer Rezeption so wichtigen einen Atemzug zu bringen. Wie gesagt, ich glaube, dies hat er auch deshalb gekonnt, weil er in Mainz und in der dort stark engagierten Kant Gesellschaft Zuspruch erfuhr.
Die Schopenhauer Gesellschaft wird sich einen ähnlichen Ruhm nicht zuschreiben dürfen. Ihr gebührt kein Dank, sie hat zu danken. Für uns hat er gearbeitet, hat sich von den kleinen Dingen der Organisation in Anspruch nehmen lassen, hat alles, auch Jeden Ärger, selbst getragen, hat geschlichtet, beruhigt, angeregt, gefördert. Er hat in der Schopenhauer Gesellschaft das Forurn gesehen, ohne das Schopenhauerforschung heutzutage zum Erliegen kommen könnte. So hat er sich auch für uns verausgabt. Die Schopenhauer-Gesellschaft gehört mit zu den vielen Einrichtungen und Personen, die von Rudolf Malter, von seinem Pflichtbewußtsein, von seinem guten Herzen, gelebt haben. Sie ist sich bewußt, daß darin eine Verpflichtung für sie liegt.***
Anmerkungen
 *Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart Bad Canstatt 1991. Der zweite der beiden Teile trägt den Titel »Das leidend befreite Subjekt. Philosophische Soteriologie«.
** Erlösung durch Erkenntnis <…>, in: Zeit der Ernte, Festschrift für Arthur Hübscher, Stuttgart Bad Canstatt 1982, S. 55.
***Der vorstehende Text hat einer Ansprache zur Gedenkfeier für Rudolf Malter an der Universität Mainz am 29. Juni 1995 zugrunde gelegen.

Mitgliederversammlung der Schopenhauer-Gesellschaft

Die nächste Mitgliederversammlung findet statt am Samstag, den 5. November 2016. Ort und Uhrzeit werden noch bekannt gegeben.